Der erste Teil der Systemischen Forschungstagung in Heidelberg ist mit dem Vormittag abgeschlossen. Kanpp 150 Teilnehmer aus Medizinischer Psychologie, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, Kinder- und Jugendhilfe, Universitäten, Praxis, BeraterInnen, SupervisorInnen,… Eine spannende Mischung aus Menschen, die systemische Ansätze zur Grundlage ihrer Arbeit haben.
Es gab bisher zwei beeindruckende Vorträge: Guy Diamond zum Thema Attachment Effect and Family Therapy: Theory, Practice, Research sowie Peter Fongagy und Eia Arsen: Mentalization Based Family Therapy: Theory, Practice.
Besonders interessant im Rahmen der Perspektive von Wirkungsforschung (die wir bei Projekten im ISS auch immer wieder praxisforschend betrachten): Wie wirken diese Therapieansätze? Lassen sich signifikante Unterschiede zu Vergleichsgruppen herstellen? Bei der MBFT wurde thematisiert, ob es sich nicht um „alten Wein in neuen Schläuchen handele“; Asen und Fongagy haben mit Hilfe eines Videobeispiels aus ihrer Therapiearbeit eindrucksvoll an einer Familie mit 3 Kindern demonstriert, wie sich MBFT fokussiert in ihrer Arbeit darstellt.
Was die AFT betrifft bin ich ins Nachdenken gekommen, was dieser Ansatz für die Beratung in organisationalen Kontexten bedeuten könnte.
Heute Nachmittag folgen Workshops Forschungsmethoden, bei denen ich mich für „Teilnehmende Beobachtung systemisch nutzen“ entschieden habe. Danach Forschungspräsentationen; hier das Thema „Kooperationen und Netzwerke aus systemischer Sicht“.
update 21.34 Uhr
Mittlerweile sind die Workshops und das Streitgespräch zwischen Dirk Baeker und Jürgen Kriz vorbei und ein netter kleiner Sektempfang in vollem Gange. Im Workshop zum Thema „Teilnehmende BEobachtung systemisch nutzen“ gab es einen interessanten Einblick in diese Methode aus der Sicht eines Ethnologen (Historie, Strömungen, praktisches) und eine – leider aufsehr kurze Zeit beschränkte – komplexitätserweiternde Diskussion der knapp 25 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Deutlich ist geworden: Je nach Profession unterscheidet sich die Sicht auf die Anwendbarkeit einer Teilnehmenden Beobachtung. Ausführlich wurde die Frage diskutiert, worin die „Teilnahme“ eigentlich besteht und wie weit man als ForscherIn durch diese „Teilnahme“ nun als Beobachter Teil oder nicht Teil des Systems ist. Neu für mich war, wie man ethologisch diese Methode nutzt und wie wesentlich der Aspekt des „Aufschreibens“ der Beobachtungen ist.
Aus den Subsymposien zum Thema Netzwerk und Kooperation habe ich folgende Eindrücke gesammelt – ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
Beitrag Soziale Konstruktion und Entscheidungen in Netzwerken am Beispiel von Wikipedia:
Momente der Selbststeuerung: Monarchie, Demokratie, Meritokratie, Anarchie;
Fragestellungen: Wie reproduziert sich dieses soziale System? Wie steuert sich das System? Wie werden Entscheidungen getroffen? Wie sehen Sonn/Relevanzstrukturen der Wikipedianer aus?
Theorie persönlicher Konstrukte nach Georg Kelly (1955/1986): Repertory Grid Test (Kelly-Grid)
- persönliches Konstrukt als Grundannahmen des Menschen in der Auseinandersetzung mit der Welt (Fromm 1995)
- Konstrukte ermöglichen eine Unterscheidung von Ergebnissen nach Ähnlichkeit und Unähnlichkeit
- Konstrukte sind bi-polar
Methodik:
Variante 1: Vorauswahl der Elemente nach vermuteter Relevanz
Variante 2: Erhebung der Elemente im Interview mit den TN
Spannend:
Untersuchung eines „virtuellen“ Netzwerkes im Unterschied zu „realen“ Netzwerken und: Wikipedia als virtuelles „social web“: Wie funktioniert das?
Beitrag: Fusionsprozesse in der psychosozialen Medizin an Unikliniken
Prozesse der Zentrenbildung sind bislang unzureichend untersucht; offene Fragen: Welche Erfolgsfaktoren sind für den Fusionsprozess relevant? Wovon hängen die gewünschten Leistungssteigerungen ab?
Forschungsinteresse:
- Retrospektive Fallstudie 4 Jahre nach Zentrumsgründung:
- Reflexion des Prozesses der Zentrums-Bildung
- Erhebung von Vorschlägen für weitere Entwicklung
- Ableitung von Erfolgsfaktoren für weitere Zentrenbildung
Methoden:
- Fragebogenumfrage bei allen MA
- Gruppeninterviews mit MA mit abteilungsübergreifenden Erfahrungen
- interne Evaluation
Ergebnisse:
- Wesentlich: eigenes Budget, bereits existierende Kooperationen
- Sicht der Mitarbeiter: Demographie, Assoziationen, Informiertheit, Veränderungen
- (Wenn ich ZPM höre, fällt mir als erstes ein….)
- Kooperation, Zusammenarbeit
- Gemeinsame Identität
- Fort- und Weiterbildungen
- Informationsfluss
- Insgesamt: von den Vorteilen berichtet wer gut informiert ist, wer in der Leitung ist (Vorteile persönlich, Vorteile Abteilung, Vorteile Zentrum)
Zum Tagesabschluß aus meiner Sicht ein Highlight des Tages:
Welche Systemtheorie für welche Empirie? Wie nützlich sind unterschiedliche Varianten der Systemtheorie zur Erforschung sozialer Systeme? Streitgespräch zwischen Dirk Baecker und Jürgen Kriz.
Leider sehe ich mich nicht in der Lage, dieses Gespräch auch nur ansatzweise nachzuzeichnen. Alleine beeindruckend: Beide haben in 10 min ihr systemisches Theoriegebäude formuliert und präsentiert. Die Diskussion war lebendig, humorvoll, komplex, interessant, bereichernd. Das Ganze wurde auf Video aufgenommen, es besteht die Chance, dass das Ganze demnächst auf Youtube zu sehen sein könnte.
Und hier noch ein paar Impressionen des Tages:
Tag 2 : Forschungssubsymposium Systemische Sozialarbeit
Im Risiko handeln“: Neue Konzepte aufsuchender Hilfen für hochbelastete Familien
Barbara Bräutigam, Prof. für Psychologie und Jugendhilfe
Prof. Matthias Müller
Neubrandenburg
Ausgangslage:
- Wir interessieren uns nicht für die Profession, sondern für das Settings
- Boom von SPFH und Bedeutungszunahme aufsuchender Hilfen
- Flächenland M-V relevanter Forschungsstandort
- Spannungsfeld Leistungsfähigkeit und fehlende Nachhaltigkeit
- hohe Qualifizierungsnotwendigkeiten und mitunter unzureichende Qualifizierung der Fachkräfte
Rahmen des Projektes:
- Definition der Zielgruppe:
- Auswahlkriterien: Kindesmisshandlung/Vernachlässigung, Schulverweisbedrohte und straffällige Jugendliche, ein oder beide psychisch erkrankte Elternteile
- Definition und Auswahl übernimmt das Jugendamt
- Tandem-Hilfen (Sozpäd und Familientherapeuten), 6-9 Monaten Hilfedauer, 12-14 Wochenstunden, Weiterbildung der HelferInnen, Regelmäßige Fallwerkstatt (Arbeit am Fallverstehen)
- 5 Familien in der Untersuchungsgruppe, Kontrollgruppe 3 Familien
Hypothese:
Bei Multiproblemfamilien reicht eine „einfache“ SPFH nicht aus; es braucht Hilfeteams, Fortbildung (Qualifizierung macht Hilfen besser)
Forschungsfragen:
- Welche Erwartungen haben die Familien an die Hilfe?
- Welche Veränderungen nehmen Außenstehende wahr?
- Wie bewerten die Familien die Hilfe?
- An welcher Entscheidungslogik orientieren sich die Jugendämter bei der Auswahl der Familien
Methodik:
- Qualitative Interviews vor und nach der Maßnahme mit den Familien
- Einsatz von Fragebögen zu zwei Zeitpunkten
- Experteninterviews
- dokumentierte Fallwerkstätten
Neu daran:
- Versuch einer systematischen Erfassung von Wirkfaktoren in den aufsuchenden Hilfen
- Kombination von Interventionsschulung, Interventionsbegleitung und Interventionsforschung
- Settingforschung (das Setting ist bedeutsam, nicht die Professionen); Systemisches Grundverständnis als verbindender und handlungspraktischer Zugang; Faible für Multiperspektivität; Abgabe von Alleinerklärungsansprüchen; Einpendeln auf die unterschiedlichen Codes der beteiligten Professionen
Diskussion:
Multiperspektivität: Wie werden alle die anderen Helfer im Familiensystem informiert, beteiligt, einbezogen? Gibt es eine direkte Kommunikation mit „anderen“ Helfern?
Systemische Sozialarbeit lernen
Georg Singe, Universität Vechta
Ausgangsbeobachtung
- systemtheoretische Fundierung der Disziplin immer häufiger
- Praxis der Profession richtet sich eher nicht nach systemtheoretisch fundierten Handlungskonzepten
- Empirische Forschungsbeiträge zur Generierung einer professionellen Berufsidentität gibt es nur in Ansätzen (Heiner 2004; 2007)<
Fragestellung:
- Wie entwickelt sich eine systemische Berufsidentität?
- Die meisten Fort- und Weiterbildungen stellen die Methodenfrage in den Vordergrund; systemische SA lernen bedeutet dann, systemische Methoden und Techniken anwenden zu lernen. Aber: Das reicht nicht aus!
These:
Der Aufbau einer systemischen Grundhaltung und die Verortung der Berufsidentität in der Systemtheorie sind wesentliche Voraussetzung für die Lernprozesse sozialer ArbeitVorannahmen Sozialarbeitswissenschaft ist systemische und kritische Handlungswissenschaft
Profession ist geprägt von der entsprechenden Handlungskompetenz:
Untersuchung:
Qualitative Analyse 50 bis 60 Praktikumsberichten, die Studierende im Rahmen ihres BA Studiums Soziale Arbeit geschrieben haben
Erste Ergebnisse:
- Praktische Handlungskompetenz baut sich sehr langsam auf und stellt sich anfangs sehr undifferenziert dar
- Theorie systemischer Sozialarbeit werden wie andere Theorien für die Reflexion der Praxis kaum genutzt
- Soziale Arbeit wird oft als das Anwenden von richtigen und falschen Handlungskonzepten verstanden
- Es herrscht ein lineares Verständnis der Arbeitsabläufe vor
- Die persönlichen und sozialen Kompetenzen entwickeln sich vor allem auf dem Hintergrund der Bewältigung spezifischer Krisen in den ersten Berufsphasen
- Die innere dynamische Wechselwirkung der Einflussfaktoren wird als Begrenzung, nicht als Bereicherung erlebt
Weitere Forschungshypothesen:
- Warum kommt es dazu, dass SA als Handlungswissenschaft verstanden wird?
- Ein systemisches Verständnis der Lernprozesse hat den Vorteil, der Komplexität dieser Entwicklung der beruflichen Identität den nötigen Entfaltungsraum zu geben.
- Ohne die Entfaltung der Selbstorganisationskräfte geht es nicht
- Das Strukturgitter Sozialer Arbeit muss neu systemisch analysiert und reflektiert werden. Systemische Reflexion der Abhängigkeiten und Lernprozesse.
Diskussion:
- Welche Identitäten sind von den Trägern gewünscht?
- Haltungen werden nicht reflektiert und sind zu wenig Thema (Erfahrungen aus der Supervision)
- Was hindert denn, eine systemische Haltung zu entwickeln? Das findet man auch bei institutionell ausgebildeten Familientherapeuten? Da sind die Hypothesen noch relativ offen; das hängt nach Piaget/Kohlberg mit den vorhandenen kognitiven Beurteilungsniveaus ab
- Nicht nur einen defizitorientierten Blick auf die Ausbildung in der SA werfen, eher das sehen was da ist
Evaluation von Multiproblemfamilien am SPZ FFM
Anja Born, Andrea Golf-Kopka
Ziele:
- Unterstützung der Familien im emotionalen Bewältigungsprozess
- Stärkung der erzieherischen Kompetenzen
- Erweiterung des familiären Netzwerkes
Setting:
- Therapie mit allen Familien in einer Gruppe zu gemeinsamen Themen
- 5 Interventionskomponenten: Psychoedukation; gruppentherapeutische Elemente; systemische Haltung; alltagsnahe Aktivitäten; handlungsorientiert spielerische Methoden
- zusätzlich zu familienorientierten Angeboten und Einzeltherapien am SPZ
- 2 TherapeutInnen, 4-5 KinderbetreuerInnen
- wesentliche Settingsvariablen: naturnahes Tagungshaus, 3-Tages-Seminar (hohe Beteilgigungsquote von gesunden Geschwistern und Vätern); familiäre Subkontexte
Was wirkt? (siehe Goll-Kopka 2009)
Herausforderung Untersuchungsgruppe:
- Hoher Drop out von Geschwistern bei der Beantwortung von Fragebögen; wichtiger Punkt!
- Belastung durch Forschung; welche Erhebungsinstrumente tolerieren diese Familien? (Teilnehmende Beobachtung wäre eine Möglichkeit! Wie kann ich Forschungsmethoden entwickeln, die den TN gerecht werden? Einsatz von Studierenden in zusätzlichen Gesprächskreisen)
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